Der Traum vom Leben auf dem Bauernhof



„Wenn ich mal älter bin, werde ich einen Bauern als Mann haben.“ Sagte mir meine Schwester Silvia Flück schon mit 16 Jahren. Tiere und die Landwirtschaft interessieren sie seit ihrer Schulzeit. Praktikum im Zoologischen Garten, Saisonstelle auf einem Hof in Island und Landdienst im Engadin erhärteten ihren Wunsch, eines Tages auf einem Bauernhof zu leben und arbeiten. Im Jahr 2013 scheint ihr lang gehegter Traum endlich in Erfüllung zu gehen.



Mittlerweile sind neun Jahre vergangen, seit sie mir ihren Entschluss mitteilte. Als grosser Bruder fand ich die Aussage mutig, aber auch herzig. Die kleine Schwester will, ganz romantisch, auf einen Bauernhof ziehen. Nicht, dass ich nicht an ihren Willen geglaubt hätte, aber wirklich sicher, war ich mir dann doch nicht. Ihre Pupe legte sie in der Schulzeit schnell mal zur Seite und kümmerte sich lieber um unsere Hasen und Katzen. In der Zeit als wir Brüder heimlich Comics im Fernsehen schauten, ging sie die Tiere füttern und brachte sie in den Stall. Auch bei den regelmässigen Wanderungen in den Bergen war sie immer vorne dabei. Ihre Sommeraufenthalte im Landdienst im Engadin drehten sich nur um die Landwirtschaft. Geissen melken, Heuen und eine kleine Beiz betreiben.

Sie trafen sich zum ersten Mal 2007 beim Geissenherde-Suchen an den Berghängen ob Plaun da Lej. Zwei Jahre später im Ausgang in St. Moritz wieder und diesen Herbst zieht Silvia zu Giacomo ins Engadin. Das es ein Bauer im Engadin auf 1800 m. ü. M. sein wird, wusste Silvia mit 16 Jahren auch noch nicht. So sehr das Engadin abgelegen erscheint, so unvergesslich sind die Aufenthalte. Auf sich alleine gestellt, teilt man seinen Tag nach den Bedürfnissen des Hofes und der Tiere ein. Ist abhängig von der Natur, weiss diese zu schätzen. Nicht verträumt, sondern völlig nüchtern wählt Silvia ihren Traum auf dem Bauernhof von Giacomo im Engadin.

Aufgeregt schaut Röykur an den Hang über dem Höhenweg. Ein paar Meter weiter konnten wir sie auch sehen. Ein Rudel Gämsen kletterte in den steilen Wiesen, zum Glück sah Gledi sie nicht und wurde nicht noch nervöser. Der Weg besteht zum Teil aus grossen Felsen. Nicht ideal für Pferde mit metallenen Hufen. Die rutschige Angelegenheit verunsicherte sie und auch die sporadischen Bergbäche und kleinen Brücken waren angsteinflössend. Silvia wollte anfangs aus dem Aargau mit ihren zwei Islandpferden ins Engadin reiten. Die Pferde sollen sich über den Sommer an die Höhe und das Klima im Engadin gewöhnen. Leider war dies aufgrund einer Krankheit von Röykur, dem älteren Islandpferd, nicht möglich. So beschloss Silvia mit ihrer Jugendreitfreundin Andrea wenigstens von Scuol nach Plaun da Lej zu reiten.

Kurz nachdem wir die Gämsenherde erblickten, kamen wir auf dem Sattel an, von wo der schöne Bergweg nur noch wenige Meter bis runter nach Grevasalvas führt. Die meisten Gäste meinen es sei der schönste Ort im Engadin. „Werner, der pensionierte Schulleiter aus Deutschland fuhr sogar extra den weiten Weg bis hierher, um mich persönlich zu fragen, ob er wieder einen Sommer hier oben verbringen dürfe.“ Erzählt uns Verena, in ihrem kleinen Bijou inmitten von Grevasalvas. Das ehemalige Maiensäss der Bergeller Bauern wird heute nur noch von einer Familie landwirtschaftlich genutzt. In den Siebzigerjahren diente das malerische Dörfchen der Verfilmung des berühmten Films „Heidi“. Auch bei Verena sehen die Zimmer grösstenteils noch aus, wie wir es uns vor langer Zeit vorstellen oder aus dem Film kennen. Einige der Häuser sind jedoch aufwändig renoviert worden und dienen heute als noble Ferienhäuser der andern Art.

Silvias beide Pferde Röykur und Gledi sind nach der langen Reise von Scoul über Zernez, Samedan und St. Moritz in Plaun da Lej angekommen, wo sie sich nun an ihre neue Umgebung gewöhnen und auf die Ankunft von Silvia im Herbst warten. Zuvor gilt es für Silvia noch ihre Weiterbildung zur biomedizinischen Analytikerin abzuschliessen. Sie hofft im Engadin eine Teilzeitstelle auf ihrem studierten Beruf zu finden und so auch ihren Teil zum Haushalt beizutragen. „Wieso wolltest du eigentlich unbedingt Bäuerin werden?“ fragte ich sie auf der Wanderung. „Einfach weil ich Bauern wollte.“ Meinte Silvia. Eine einfachere Antwort gibt es wohl kaum. Einen schöneren Ort hätte sie sich jedenfalls nicht erwünschen können.



Ruedi Flück 2024 — Bern, Switzerland